Seit mehr als zwanzig Jahren trägt das Enlhet-Institut Nengvaanemkeskama Nempayvaam Enlhet (Unsere Sprache und unser Wissen wachsen lassen) dazu bei, dass es dem Volk der Enlhet leichter wird, auf sich selbst und seine Geschichte zu schauen. Eine solche Arbeit ist nötig, weil mit der Fremdbesiedlung seines Landes in den letzten hundert Jahren der Eindruck entstanden ist, die Enlhet seien nicht dazu in der Lage, eigenständig in der modernen Welt zu leben. Wir haben die Berichte von alten Männern und Frauen gesammelt, die miterlebt haben, wie ihre Gesellschaft Unabhängigkeit, Land und somit die Lebensgrundlage verloren hat. Diese Erzähler leben nicht mehr. Wir möchten jedoch die Berichte, die nur auf Enlhet vorliegen, in den kommenden Jahren ihren Nachkommen zugänglich machen.
Die Enlhet. Geschichte. Die Enlhet (früher als Nord-Lengua bezeichnet) sind mit 8200 Personen das größte Volk der Sprachfamilie Enlhet-Enenlhet (auch Maskoy) im Chaco von Paraguay. Bis etwa 1930 lebten sie in kleinen Gruppen auf einem Gebiet von etwa 20.000 Quadratkilometern. Ausgehend von einem Hauptort bewegte sich jede Kleingruppe innerhalb ihres Heimatraums zyklisch, indem sie der Reifezeit verschiedener Früchte, dem Auftreten von Wildtieren und dem jahreszeitlich bedingten Stand ihrer Wasserstellen folgte.
Die Enlhet betonten die Gestaltung eines Zusammenlebens im Gleichgewicht, die sie mit nengelaasekhammalhkoo bezeichnen, „einander wohlgesonnen sein; sich gegenseitig ernst nehmen“. Für sie war es kein erstrebenswertes Ziel, dass sie in ihrem Land etwa eine aufwendige Infrastruktur anlegten oder materielle Wertgegenstände schufen und vermehrten.
Als ab 1927 deutschsprachige mennonitische Gruppen in das Land der Enlhet einwanderten, meinten diese deshalb, sie seien in ein leeres Land gekommen und nahmen es unbefragt für sich in Anspruch. Die Enlhet mussten nun mit einem zunehmenden Verlust ihrer Lebensgrundlage zurechtkommen. Ein selbstbestimmtes Leben wurde für sie schnell schwierig.
Fast zeitgleich mit der Ankunft der Siedler eskalierte der Streit zwischen Paraguay und Bolivien um den Besitz des Chaco, in dessen Zentrum das Enlhet-Land liegt. Als deshalb 1932 der Krieg zwischen beiden Ländern ausbrach, waren die Enlhet seiner Gewalt direkt ausgesetzt. Im selben Jahr kam es zu einer Pockenepidemie unter den Enlhet, der in wenigen Monaten mindestens die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer fiel. Vor dem Hintergrund dieser traumatischen Erlebnisse hatten die intensiven Missionsbemühungen der Einwanderer schnell Erfolg: Die Enlhet ließen sich gegen Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts in wenigen Jahren fast vollständig taufen und wurden in sogenannten Missionsstationen, im Grunde also in Reservaten, angesiedelt. Damit war der Verlust ihres Landes und ihrer Lebensweise sichtbar besiegelt.
Die Enlhet. Gegenwart. Heute werden diese Missionsstationen comunidades genannt. Sie bleiben dennoch organisatorisch dem mennonitischen Gesellschaftmodell nachempfunden und werden von einem mennonitischen „Berater“ verwaltet, der in der jeweiligen comunidad lebt. Die christlich-mennonitische Gemeinde dient als Institution, die das soziale Leben bestimmt. Diese Umstände führen bei den Enlhet zu einer starken Ausrichtung an Vorschlägen und Modellen, die von außen kommen und keine Entsprechung in ihrer Geschichte und Tradition haben. Gleichzeitig aber bleibt ihr tägliches Leben vielfältig mit traditionellen Möglichkeiten verbunden, in denen wahrgenommen, argumentiert oder bewertet wird, und die somit ihr Handeln erheblich motivieren. Es ist ein Widerspruch entstanden zwischen einer konkreten Lebensweise, die mit der eigenen Tradition verbunden ist, und Argumentationsformen, die sich am Denksystem der Einwanderer orientieren, die heute im Land der Enlhet das Sagen haben. Unter diesem Widerspruch wurde in der Enlhet-Gesellschaft das Gespräch über all das vernachlässigt, sogar unterdrückt, was in ihrem eigenen geschichtlichen Weg und ihrer Tradition angelegt ist. Es sind Blasen des Verstummens entstanden. Diese Räume des Schweigens steht der Weiterführung und Veränderung jener Handlungspotentiale im Weg, die im konkreten Leben sichtbar sind. Das lähmt.
Die Berichte der Alten. Die Gegenwart der Enlhet-Gesellschaft zeichnet sich durch das Leben in comunidades aus, in denen die Enlhet auf kleinem Raum als arme Landarbeiter leben. Der Zugang zu anderen Lebensentwürfen bleibt ihnen strukturell verwehrt, andre Lebensentwürfe sind oft nicht einmal mehr vorstellbar. Demgegenüber beschreiben die Alten, Zeugen des Wandels, vielfältige Handlungsmöglichkeiten, wenn sie aus ihrem Leben berichten. Sie zeigen ein abwechslungsreiches Leben in einer Welt, die sie eigenständig gestalteten und die ihre materiellen Bedürfnisse zufriedenstellend erfüllte. Sie zeigen viel Freiheit. Ihre Berichte stehen somit in einem deutlichen Kontrast zur Gegenwart und erzeugen eine Spannung, die dazu anregt, sich die Zukunft anders als bisher vorzustellen und deshalb auch der Gegenwart in einer neuen Weise zu begegnen.
In den letzten zwanzig Jahren haben wir regelmäßig alte Männer und Frauen besucht, und über mehrere Jahre hinweg haben die einzelnen Erzähler intensiv über ihre Erinnerungen berichtet. Dabei sind mehr als 700 Stunden an Aufnahmen auf Enlhet mit authentischen Überlegungen zu ihrer Geschichte und ihrem Leben zusammengekommen. Wir haben zudem mit den alten Leuten Reisen durch das Enlhet-Land gemacht, bei denen wir ihr Wissen über die ursprüngliche Landkarte festgehalten und die Orte mit GPS registriert haben.
Diese Zeugen des Wandels sind inzwischen gestorben. Viele ihrer Berichte über die Geschichte und Tradition ihres Volkes sind aber in unseren Audio- oder Videoaufnahmen erhalten geblieben.
Ergebnisse unserer Arbeit.Einen Teil dieser Aufnahmen haben wir fortlaufend als Audio-Editionen und Video-Filme zugänglich gemacht und über Radiosendungen, DVDs und das Internet verbreitet. Seit 2021 editieren wir unsere Videoaufnahmen in den Sprachen Enlhet, Toba-Enenlhet und Guaná und veröffentlichen sie fortlaufend in der Biblioteca de la memoria hablada (Bibliothek des oralen Wissens). Mit den erhobenen GPS-Daten haben wir Landkarten editiert, die die ursprüngliche und die heutige Geographie zeigen. Diese Karten wurden als Schilder an öffentlichen Orten aufgestellt. Mit unseren Veröffentlichungen, die in der Enlhet-Gesellschaft sehr präsent sind, ist ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass das Gespräch über die eigene Geschichte legitim und nötig ist. Die Basis gemeinsamer Kenntnisse über das eigene Volk und seine Geschichte wurde aufgefrischt; diese Kenntnisse waren in Gefahr, vergessen zu werden, weil sie nicht mehr weitergegeben wurden. Wir beobachten, dass das Interesse an den Berichten unter den Enlhet umso mehr zunimmt, wie der zeitliche Abstand zum Tod der Erzähler zunimmt. Als literarisch hochwertige Darstellungen bilden unsere Veröffentlichungen auch ein wichtiges Glied der Bemühungen, das Enlhet als Sprache zu erhalten und stärken. Für die Schule bedeuten unsere Editionen zudem nahezu die einzigen Materialien, die die Sprache und das Leben der Enlhet miteinbeziehen.
Das eigentliche Interesse unserer Arbeit liegt in der Stärkung der Kommunikationsprozesse innerhalb der Enlhet-Gesellschaft. Über dieses Ziel hinaus sind vielfältige Publikationen entstanden, zumeist auf Spanisch, die die Sprache und das Leben der Enlhet zum Thema haben. Im Besonderen beschäftigt uns die europäische Besiedlung des Chaco, die aus den indigenen Völkern wenig geachtete Fremdlinge in ihrem eigenen Land gemacht hat. Wir untersuchen die Gründe, den Verlauf und die Folgen der schwindenden Handlungsmöglichkeit und -fähigkeit der indigenen Völker, um mögliche Wege zu erkennen, wie sie diese Handlungsfähigkeit zurückgewinnen können. Wir denken aus der Perspektive der Enlhet und in dem Licht ihrer Geschichte über mögliche Formen des Zusammenlebens im Chaco nach, die allen Bevölkerungsgruppen einen Platz lässt und ihnen eigene Handlungsmöglichkeiten zugesteht.
Auf Deutsch ist ein Sammelband mit Enlhet-Berichten („Wie schön ist deine Stimme“) erschienen, der auch in Deutschland erhältlich ist. Auf Englisch stammt von uns ein Kapitel im Palgrave International Handbook of Peace Studies („Nengelaasekhammalhkoo: An Enlhet Perspective“). Gegenwärtig sind zudem Veröffentlichungen in Druck, die in der University Press of Florida und der Queen’s/ McGill Press (Kanada) erscheinen.
Weiteres Vorgehen. Die Audio- und Video-Editionen ermöglichen einen leichten und schnellen Zugang zu dem, was die Zeitzeugen mitteilen. Das ist wichtig, denn die Enlhet lesen wenig. Eine schriftliche Ausarbeitung der Berichte hat dennoch ihre Chancen. Wenn die Erzähler ihre Berichte wiederholt haben, haben sie das nie in derselben Form getan. Dadurch kam eine Vielzahl an Informationen zusammen, die in einer einzelnen Version nicht vollständig wiedergegeben wird. Die schriftlich Fassung ermöglicht es uns, die Variationen ineinander zu arbeiten und dadurch die Detailvielfalt der bearbeiteten Darstellungen deutlich zu erhöhen. Dabei achten wir sorgfältig darauf, dass wir den Intentionen der Erzähler treu bleiben und den Inhalt ihrer Zeugnisse nicht verfälschen. Wir planen, die Berichte von 30 Erzählern, Männern und Frauen, in den nächsten Jahren jeweils als Buch auf Enlhet herauszugeben (entsprechende Beispiele gibt es bereits in den Sprachen Toba-Enenlhet und Guaná).
Die Aufnahmen müssen zunächst abgeschrieben –transkribiert– und die Varianten zum selben Thema dann ineinander gearbeitet werden. In einer Sprache ohne schriftliche Tradition müssen dabei Techniken zur Darstellung entwickelt werden, die sowohl der spezifischen Sprache als auch dem Inhalt der Berichte gerecht werden. Die Transkription haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten fortlaufend durchgeführt. Sie ist inzwischen nahezu abgeschlossen. Ein Teil der Berichte ist zudem schon zu einem geschlossenen Text zusammengefügt worden; für andere steht dieser Arbeitsschritt noch aus. Dabei sollen etwa 30 Manuskripte entstehen, deren Umfang zwischen 50 und 600 Seiten schwankt. Diese Manuskripte brauchen im nächsten Schritt eine sorgfältige Edition, damit die mündlichen Berichte qualitativ angemessen als geschriebene Texte auf Enlhet zur Verfügung stehen können.
Mit der Erfahrung, dass die Übersetzung von Enlhet-Berichten auf Deutsch, Spanisch oder Englisch über lange Zeiträume viele Kapazitäten bindet, wollen wir uns in den nächsten Jahren darauf konzentrieren, diese Berichte in ihrer Originalsprache herauszugeben und unsere gesamten Aufnahmen auf Enlhet zugänglich zu machen. Angesichts der Menge dieser Aufnahmen wird dieser Prozess sicherlich zehn Jahre benötigen.
Einladung. Wenn Sie unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen möchten, können Sie das gern über den Versöhnungsbund e.V. tun, der Ihnen eine deutsche Spendenbescheinigung ausstellt. Es wäre schön, wenn Sie dann in Kontakt zu uns treten, damit wir Sie über den weiteren Verlauf unserer Arbeit informieren. Der Versöhnungsbund hat folgende Kontoverbindung:
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Verwendungszweck: Enlhet Projekt Paraguay